27.3.06

Tote Hühner und Flugkopfbälle




Die Welt, 28.3.06

Vorwärts, Millionäre!

Reich gegen Arm, River Plate gegen Boca Juniors: Beim Spitzenspiel des argentinischen Fußballs herrschte in Buenos Aires wieder Ausnahmezustand

von Christian Thiele

Dem letzten Mann von River haben sie tote Hühner neben die Torpfosten geworfen, die müssen noch weg. Der Schiedsrichter schaufelt ein paar Kilo Klopapierrollen aus dem Strafraum, aber dann geht es schon los. Anstoß für River, Farias tippt den Ball zu Ahumada, damit beginnt die Partie offiziell. Aber eigentlich hat die Schlacht lange vorher begonnen, lange vor diesem Sonntag nachmittag um kurz vor halb fünf. Denn für Boca Juniors gegen River Plate reichen 90 Minuten nicht aus.

So hat vor zehn Tagen die Heimmannschaft verkündet, daß sie von den 60 000 Plätzen leider nur 2928 an die Gäste von River vergeben könne - aus Sicherheitsgründen. River Plate droht mit einem Fan-Boykott, Richter werden angerufen. Der Boca-Präsident qualifiziert das Stadion der Gastmannschaft, das Monumental, auch noch als "häßlichen Kühlschrank" ab - und läßt schließlich gnädigerweise 4500 Karten an River-Fans verkaufen. Die sind jetzt ziemlich still auf ihrer kleinen Tribüne. Ganz oben, weit weg vom Rasen, schwenken sie ihre weiß-roten Fahnen - wie Schiffbrüchige in einem blau-gelben Meer. "Auf geht's, Boca", singt das Stadion, von den Oberrängen regnet es gelbe Papierfetzen, es brennen bengalische Feuer, Trommeln prasseln, das "Bombonera" (Pralinenschachtel) genannte Stadion bebt.

Vierte Minute, man singt: "Marado, Marado, Maradooooo". Diego Maradona winkt aus seiner Privatloge. "Der Superclásico ist wie Sex mit Julia Roberts", hat er die Tage gesagt. Und er hat recht. Zwar wohnen auch in anderen Ländern zwei Spitzenclubs in derselben Stadt: In Glasgow, in Istanbul, in Rom. Aber der Superclásico in Buenos Aires ist das ultimative Fußballderby. Wenn Boca gegen River antritt, duellieren sich zwei der weltbesten Vereine. Zusammen haben sie vier Weltpokale geholt, acht Südamerika-Titel und 55 nationale Meisterschaften. Es spielt der Club, der der Welt Diego Maradona und Juan Riquelme geschenkt hat (Boca), gegen den, dem Alfredo di Stefano und Enzo Francescoli zu verdanken sind (River). Und es spielt mal wieder der Tabellenzweite gegen den ersten.

32. Minute, Boca stürmt und drängt. Mit Flugkopfbällen, Fallrückziehern, Hackentricks. Dann Foul an Insua, 55 000 Boca-Fans schreien auf, als würden 55 000 Schienbeine bluten - der Schiedsrichter zeigt Gelb. Als zwölfter Mann gilt die Fanschar von Boca. Denn hier in der engen, steilen Bombonera, eingequetscht zwischen Bahngleisen und legosteinbunten Wohnblocks im Hafenviertel von Buenos Aires, haben die Fans schon so manchem Gegner die Angst in die Beine gebrüllt. "50 Prozent des Landes plus einer" stehen angeblich hinter ihnen, sagen Boca-Anhänger gern. Eine Meinungsumfrage neulich hat immerhin ergeben, daß 34 Prozent der Argentinier für Boca sind und 29 für River. Die Rivalität spaltet das ganze Land: Auch fernab der Hauptstadt, in den Supermärkten in der argentinischen Provinz, liegen Karnevalsmasken, Aschenbecher und sonstige Fan-Artikel mit den Logos der beiden Mannschaften aus.

40. Minute, die Bombonera ruht still wie in einer Schweigeminute: Es steht eins zu null für River. Farías, die Nummer neun, hat den Ball von der Strafraumkante in den rechten Winkel gehoben, über Boca-Torwart "Pato" Abbodanzieri hinweg. Nach einer fruchtlosen Startoffensive muß die Heimmannschaft mit 0:1-Rückstand in die Halbzeit.

"Vorwärts, Millonarios!": Nach dem Wiederanpfiff hat sich auch die River-Tribüne warmgesungen. "Millionäre" nennen sie sich, die weiß-roten. Seit ihrem Umzug in den feinen Norden der Stadt gelten sie als Snobs und als "Gallinas"(Hühnchen). Die Blau-Gelben hingegen, die aus dem Süden, nennen sich selbst "Bosteros" (Müllfresser). Reich gegen Arm, auch darum geht es also beim Superclásico - zumindest in der Selbstwahrnehmung. Denn beide Clubs wurden Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet, beide im Hafenviertel, beide von Matrosen aus England und Einwanderern aus Genua. Aber Gemeinsames trennt eben manchmal. "Wenn ich mal sterbe, sollen sie mich im River-Trikot begraben", sagt Titi Siciliano und zeigt auf sein blau-gelbes Fandreß: "Denn es ist besser, wenn einer von denen unter die Erde kommt als einer von uns."

61. Minute, Angriff nach Angriff versandet auf dem Weg in den River-Strafraum. Die blau-gelben Fans feiern trotzdem ihren Fußballkarneval - Superclásico ist schließlich nur zweimal im Jahr: "Auch wenn wir nicht Meister werden, das Gefü-hühl, das bleibt dasselbe", singen sie. Die Boca-Anhänger gelten als die treuesten im Land, sie halten auch in schwerer Zeit zur Mannschaft. Die River-Fans hingegen sind anspruchsvoll. In ihrem Stadion bleiben die Ränge schon mal leer, wenn das Team schlecht spielt: eine Kühltruhe eben.

Dagegen ist die Bombonera ein Mikrowellenherd, manchmal auch mit Kurzschluß: Massenprügeleien sind üblich, rote Karten auf dem Rasen ebenso - diesmal sind es drei. Schon der allererste Superclásico 1913 endete mit einem Tumult statt mit einem Schlußpfiff. Bei einer Massenpanik in den späten sechziger Jahren kamen 70 Menschen ums Leben.

Heute beschränkt sich der Kampf auf den Rasen. Die Blau-Gelben rennen um ein Unentschieden, vergeblich - bis zur 88. Minute. Guillermo Barros Schelotto, die Nummer sieben, ist gefoult worden, liegt schreiend am Boden: Elfmeter für Boca. Es tritt Palermo an, die Neun. Hände werden in den Himmel gereckt, Richtung Gott, und es scheint zu helfen, denn Palermo verwandelt. Kanonenböller, die Fans liegen sich in den Armen, es bleibt beim Unentschieden. Die Meisterschaft bleibt offen, aber das Wichtigste, die Ehre, ist gerettet.